Augen zu und rein

Eines meiner Lieblingsthemen nach 2 bis 10 Wein an einem Abend ist die Frage nach dem Beginn verschiedener Disziplinen. Das ganze bietet sich besonders als spannendes Gespräch an, weil es hierzu keine klare historisch/wissenschaftliche Lösung gibt. Zudem wird durch ein solches Gespräch oft klar, was ein jeweiliger Gesprächspartner als radikalen, essenziellen Aspekt eines jeweiligen Faches ansieht und oftmals trifft man auf Aspekte, die einem vorher nicht bekannt waren.

Als einen Startpunkt der Philosophie beschreibt Platon z.B. das Staunen über die Welt, welches einer jeder philosophischen Überlegung vorangeht.

In einem Gespräch mit einem befreundeten Musikwissenschaftler empfanden wir beide den Rhythmus als erstes Moment der Musik. Unsere Meinungen gingen jedoch auseinander bei der Bestimmung des ersten Moments eines solchen. Während mein Freund den Schritt als ersten Akt des Rhythmus heranzog, empfand ich den Herzschlag als Urrhytmus.

Ebenso wäre natürlich auch ein Vogelgezwitscher, als Urmoment der Harmonie heranzuziehen, was, wie oben erwähnt, mehr eine Aussage über die Sicht des Sprechers ist, als über den tatsächlichen Tatbestand.

Neben den einführenden Beispielen will ich nun jedoch zu meinem Fach, der Architektur, kommen.

Historischer Konsens ist wohl, die Sesshaftwerdung vor ca. 12000 Jahren als erste Momente der Architektur anzusetzen. Auch gut dokumentiert sind Feuerstellen, welche der Sesshaftwerdung vorangehen. Gottfried Semper (1803 – 1879), der als einer der wichtigsten Architekten und Kunsttheoretiker seiner Zeit gilt, sieht diese als erstes und moralisches Element der Baukunst an. Für ihn bildet diese ein Moment der Geselligkeit, welche in seiner entwickelteren Form zu Altären der Kulte führt. Tatsächlich finden wir auch in verschiedenen Kulturen rituelle Feuerstellen, welche im Rahmen von Stadtgründungen angelegt worden sind. Mit solchen Feuerstellen, welche in der Mitte der neu zu gründenden Stadt angebracht wurden, kultivierte man initial ein bisher unbestimmtes Land und widmete es so in eine Stadt um.

In radikalerer Betrachtung lassen sich jedoch auch andere Orte bestimmen, welche als Urmomente der Architektur zu benennen wären. Als solche will ich Wälder und Höhlen nennen, die zwar nicht von Menschen erbaut worden sind, jedoch durch deren Widmung durch den Menschen zu einer Wohnung wurden.

Meine Lieblingstheorie ist jedoch eine, welche ich von Hermann Schmitz ableite. Die von ihm formulierte Definition vom Wohnen ist die: „Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum“. Das radikalste Moment benennt er in seinem Buch „Das Göttliche und der Raum“, in dem er das Gebet beschreibt. Hier identifiziert er den Augenschluss, als interkulturell verbreitete Praxis beim Gebet. Angefangen bei den Römern, welche beim Gebet den Kopf mit einem Textil bedeckten, bis hin zu den uns besser bekannten Praktiken des Christentums, des Islams und des Buddhismus, treffen wir in vielen Religionen den Augenschluss als kontemplatives Mittel für das Gebet an.

Neben den unwillkürlichen Momenten des Augenschlusses, denen wir z.B. in starker Scham oder Angst begegnen, ist das bewusste Schließen der Augen ein Kultivieren des kontemplativen In-sich-gekeht sein. Das Augenlid fungiert hierbei als kleinst mögliche Wand, welche das Innere von Äußeren trennt und Raumsituationen voneinander trennt.

Falls jemand das Gefühl hat, dass es ein radikaleres Urmoment der Architektur gibt, lade ich gerne dazu ein, die Augen zu schließen und sich auf die Suche eines solchen zu begeben.

3D-Rendering des Augengrau

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